Wilhelmsburg wehrt sich!
Am 23. Juni 2024 war es auf einmal ganz still auf dem Veddeler Damm. Wo sonst unablässig Vierzigtonner dröhnen, waren nun Vogelgezwitscher und der Wind in den Bäumen zu hören, zumindest einige Minuten lang.
Wenige Tage zuvor war am Veddeler Damm eine Radfahrerin von einem abbiegenden Lastwagenfahrer erfasst und getötet worden, weshalb sich zahlreiche Menschen an diesem Sonntag zu einer Mahnwache mit anschließender Demonstration versammelt hatten.
Wilhelmsburg demonstriert
Etwas lauter wurde es eine halbe Stunde später an der Veddeler S-Bahn-Station. Mehrere hundert radfahrende Wilhelmsburger*innen versammelten sich unter dem Motto „Mobilität für alle – gegen das Verkehrschaos“ zu einer Demo-Rundfahrt, um gegen die Dominanz des Autoverkehr auf der Elbinsel zu protestieren und einen besseren Öffentlichen Personen-Nahverkehr (ÖPNV), mehr Verkehrssicherheit durch Tempo 30 und Lkw-Durchfahrtsverbote für Wohngebiete zu fordern.
Die Verkehrssituation für Radfahrende und Fußgänger*innen in Wilhelmsburg ist zum Teil dramatisch: Durch Logistikzentren am Rand der Wohngebiete, wie etwa die erst kürzlich auf dem Gebiet der ehemaligen Wollkämmerei angesiedelte Firma Fourparx, ist der Anteil des Lkw-Verkehrs im Stadtteil deutlich höher als anderswo. Die Lastwagen kreuzen Schulwege, parken nicht selten illegal auf Rad- und Gehwegen und vergrößern in den engen Straßen das Unfallrisiko enorm. Auf ein Eingreifen der Behörden warten die Bewohner*innen des Stadtteils schon lange vergeblich. Die Rad- und Gehwege-
infrastruktur lässt in weiten Teilen zu wünschen übrig.
Tempo 30 könnte helfen
Bemühungen um Tempo 30 wurden bisher meist mit Verweis auf die Straßenverkehrsordnung (StVO) und deren strenge Vorgaben abgelehnt. Mit der endlich geglückten Reform der StVO im Sommer 2024 eröffnen sich nun allerdings neue Gestaltungsmöglichkeiten, wie etwa Tempo 30 auf Schulwegen und auch in den Hauptstraßen der Wohngebiete mit viel Mischverkehr.
Tempo 30 könnte dafür sorgen, dass Wohngebiete wie etwa die Georg-Wilhelm-Straße oder die Neuhöfer Straße für den Durchgangsverkehr unattraktiv werden und dieser stattdessen auf den Reiherstieg-Hauptdeich und die Schmidts Breite ausweicht. Während der Bauphase an der Georg-Wilhelm-Straße hat das bereits ganz gut funktioniert.
Auf der Demonstration wurde auch kritisiert, dass im stark verdichteten Wilhelmsburg weiterhin geplant ist, den Wilden Wald und damit die letzten Natur- und Wildnisflächen zu zerstören, um dort Wohnungen zu errichten. Es ist nicht zu verstehen, weshalb beispielsweise am heutigen Logistik-Standort „An der Wollkämmerei“ die Chance verpasst wurde, einen ehemaligen Industriestandort in ein Wohngebiet zu verwandeln.
Total verplant
Ingesamt sollen in den kommenden Jahren in den neuen IBA-Quartieren zwischen Spreehafen und Rathausviertel fünftausend Wohnungen entstehen. Für diese Menschen stellt sich die Frage, wie sie in Wilhelmsburg mobil sein können. Aktuell stützt sich die Planung überwiegend auf den vorhandenen ÖPNV, der allerdings bereits jetzt häufig überlastet ist. Bisher ist lediglich eine neue Buslinie zur Anbindung der neuen Quartiere vorgesehen. Darüber hinaus sollen Mobility Hubs mit Car-Sharing-Angeboten entstehen. Dies kann jedoch nur eine Lösung für den Gelegenheitsverkehr sein. Für Pendler*innen zu Airbus oder in den Hamburger Osten bleibt nach aktuellem Stand nur das eigene Auto. Daher sind in den ursprünglich als autoarm propagierten Quartieren plötzlich doch wieder Parkstände in den Straßen eingeplant – ein Armutszeugnis für die Hamburger Stadtplanung.
Stattdessen sollte dringend überprüft werden, wie der Pendelverkehr durch den ÖPNV und sichere, leistungsfähige Radverbindungen aufgefangen werden kann, um den Autoinfarkt zu vermeiden. Ideen dafür gibt es ja bereits, wie etwa Expressbusse und zuverlässige, gut angebundene Fährverbindungen, auch am Wochenende. Dass dafür kein Geld vorhanden sein soll, mutet absurd an, wie ein Demoredner angesichts der hohen Kosten für die A 26 Ost anmerkte.
Für ein lebenswertes Wilhelmsburg
Beim Autokauf treffen Menschen normalerweise eine Mobilitätsentscheidung für die nächsten zehn Jahre. Ähnlich ist es beim Umzug und beim Arbeitgeberwechsel. Beim Bezug der neuen IBA-Quartiere wird eine solche Entscheidung also von besonders vielen Menschen getroffen werden. Deshalb besteht jetzt die Chance, die Weichen für die kommenden Jahrzehnte zu stellen: Die neu gewählte Bezirksversammlung sollte darauf einwirken, dass die Möglichkeiten der neuen StVO auch genutzt werden, um durch Lkw-freie Tempo-30-Zonen den Menschen die Möglichkeit zu geben, sich sicher zu Fuß und auf dem Rad durch den Stadtteil zu bewegen, Lärm- und Schadstoffemissionen zu verringern, Schulwege sicherer und die Straßen lebenswerter zu machen.
Die Gelegenheit, Menschen zum Verzicht auf das eigene Auto zu bewegen und die Lebensqualität für alte und neue Wilhelmsburger*innen deutlich zu erhöhen, besteht jetzt. Wenn die Politik sie nicht ergreift oder nicht ergreifen will, müssen wir uns weiter dafür einsetzen.
Für die BG-Mitte: Marcel Simon-Gadhof, Thomas Mühlichen