
Mahnwache © Malte Hübner
Wie viele noch?
Im ADFC Hamburg gibt es den Arbeitskreis Ghostbike. Die RadCity hat mit den Initiatoren Heiko und Thomas gesprochen. Zudem erfahrt ihr, was eine Radfahrerin beim Anblick eines solchen Geisterrads in ihrer Nachbarschaft empfindet.
In Hamburg fällt eine Rekordmarke nach der nächsten, und das ist alles andere als ein Grund zum Jubeln.
Das Jahr 2025 könnte das Jahr mit den meisten getöteten Radfahrer*innen auf Hamburgs Straßen werden. Bis zum Redaktionsschluss waren es bereits sieben Menschen, die größtenteils von Kraftfahrenden überrollt, mitgeschleift, aus dem Leben gerissen wurden.
Jedes Mal, wenn so etwas geschieht, wird in den Medien ausführlich darüber berichtet. Jedes Mal melden auch wir als ADFC Hamburg uns zu Wort, äußern unser Mitgefühl für die Hinterbliebenen, bringen unser Entsetzen über den tödlichen Unfall zum Ausdruck und machen unsere verkehrspolitischen Forderungen deutlich – immer und immer wieder. Ganz offensichtlich mit spärlichem Erfolg.
Seit knapp zwei Jahren gibt es im ADFC Hamburg auch den Arbeitskreis Ghostbike, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, das würdevolle Gedenken für die Getöteten mit politischen Forderungen zu verknüpfen. Die RadCity hat mit den Initiatoren Heiko Rutszys und Thomas Lütke gesprochen.
RadCity: Wir haben ja schon im Frühjahr 2024 (siehe RadCity 02/24) ein Gespräch mit euch geführt, kurz nachdem Heiko mit dem Thema Ghostbikes im ADFC aktiv geworden war. Inzwischen gibt es den Arbeitskreis Ghostbike, und das Thema hat – leider, muss man sagen – eine immer größere Bedeutung gewonnen. Worin seht ihr die Hauptaufgabe dieses Arbeitskreises?
Heiko Rutszys: In erster Linie organisieren wir nach jedem Verkehrsunfall in Hamburg, bei dem eine Radfahrerin oder ein Radfahrer getötet wurde, eine Mahnwache. Anfänglich waren das immer sehr improvisierte Veranstaltungen mit lediglich einer Schweigeminute zum Gedenken an die getötete Person. Inzwischen gibt es da aber feste Abläufe und eine klare Struktur, auch was die Organisation, die polizeiliche Anmeldung, die Technik angeht.
Könnt ihr das etwas konkreter schildern?
Thomas Lütke: Sobald wir von einem Unfall erfahren, macht sich Heiko auf den Weg und fährt zur Unfallstelle, sieht sich die Situation vor Ort an und versucht, so viel wie möglich über die Umstände in Erfahrung zu bringen. Er spricht mit der Polizei und, so weit möglich, auch mit den Beteiligten oder Augenzeugen.
Heiko: Nachdem wir wissen, wie sich der Unfall ereignet hat, bringen wir eine Schrifttafel an der Unfallstelle an, auf der die wichtigsten Informationen zu lesen sind, zusammen mit einem QR-Code, der auf die dazu gehörige Webseite des ADFC führt. Und dann organisieren wir eine Mahnwache, die immer möglichst zeitnah stattfinden soll. Bei den Mahnwachen hält Thomas eine Ansprache und wir stellen an der Unfallstelle ein weiß lackiertes Ghostbike auf, als Mahnmal und als Erinnerungsstätte.
Das bedeutet eine Menge logistischen Aufwand, oder?
Thomas: Ja, das stimmt. Aber da haben wir in letzter Zeit eine Menge verbessern können. Allein, dass wir die Unterstützung des Vereins mit den Mitarbeitenden in der Geschäftsstelle
sowie Materialien wie zum Beispiel Lautsprecheranlage, Transportanhänger und Lager oder auch die IT-Infrastruktur, E-Mail und Webseite nutzen können, hat Vieles erleichtert. Und dann haben uns verschiedene Menschen ihre alten Fahrräder gespendet, die wir weiß lackieren und als Ghostbikes verwenden. In manchen Fällen haben uns die Angehörigen der Getöteten auch das Rad des Unfallopfers überlassen, ganz bewusst. Das sind natürlich dann ganz besondere Orte des Gedenkens.
Wie empfinden die Hinterbliebenen denn eure Aktivitäten?
Heiko: Von Seiten der Angehörigen gibt es regelmäßig ein sehr positives Feedback, und das ist für uns sehr wichtig. Wir tun grundsätzlich nichts gegen den Willen der Hinterbliebenen. Und wir bekommen immer wieder gesagt, wie wichtig gerade den Angehörigen und Freund*innen der Opfer so ein Ort des Gedenkens ist.
So eine Begegnung mit direkt Betroffenen oder Augenzeugen ist sicherlich keine einfache Aufgabe. Wie kommt ihr damit klar?
Thomas: Da versuchen wir wirklich so behutsam wie möglich vorzugehen. Wir drängen uns in keinem Fall auf und bieten den Familien einfach unsere Unterstützung an. Nur, wenn die ausdrücklich gewollt wird, halten wir den Kontakt. Darüber hinaus bilden wir uns natürlich auch weiter – nachher zum Beispiel haben wir einen Termin mit der Hamburger Notfallseelsorge, von der wir uns wichtige Hinweise und Ratschläge für den Umgang mit direkt Betroffenen erhoffen.
Und welche Resonanz bekommt ihr von Passanten auf die Ghostbikes?
Thomas: Es gibt viele positive Reaktionen, aber immer wieder werden wir auch mit dem Vorwurf konfrontiert, wir würden den Tod von Menschen für unsere Zwecke instrumentalisieren.
Wir suchen dann regelmäßig das direkte Gespräch und können die Vorwürfe in der Regel entkräften.
Heiko: Wir stellen fest, dass die Mahnwachen immer mehr Zulauf bekommen, dass sie eine zunehmende Öffentlichkeitswirksamkeit entwickeln. Das ist sehr gut, denn nur dadurch wird mehr Druck auf die politisch Verantwortlichen aufgebaut, endlich mehr für die Sicherheit der Radfahrenden in Hamburg zu unternehmen.
Da könnte man zynischerweise fast sagen, dass der AK Ghostbike eine richtige Erfolgsgeschichte ist. Wobei allein die Tatsache, dass er existiert, ja den gewaltigen Misserfolg der Hamburger Verkehrspolitik dokumentiert.
Thomas: Genau so ist es. Eigentlich haben wir nur ein Ziel: Dass der Arbeitskreis überflüssig wird, weil Vision Zero Realität in Hamburg geworden ist. Wir wollen endlich wieder mit Freude Fahrrad fahren. Um nichts anderes geht es uns.
Heiko: Ganz genau. Und bis dahin wollen wir mit unseren Mahnwachen und anderen Aktionen so viel Aufmerksamkeit wie möglich schaffen. Zum Beispiel, indem wir uns mit einem Ghostbike in eine Fußgängerzone stellen und Leute ansprechen, ob sie wissen, was es damit auf sich hat, um so ins Gespräch zu kommen. Außerdem sorgt das Thema Sicherheit im Straßenverkehr inzwischen allein schon für Aufmerksamkeit. Auch die Presse kommt gelegentlich aktiv auf uns zu und erkundigt sich nach Aktionen.
Erfahrt ihr auch von Behörden Unterstützung für eure Arbeit?
Heiko: Ich habe öfter Kontakt vor allem mit Stadtteilpolizisten, die ja sehr gut wissen, wo es in ihren Zuständigkeitsbereichen kritische Stellen gibt. Und die schaffen es dann manchmal, zum Beispiel bessere Vorfahrtsregelungen anzuregen und durchzusetzen. Auch aus der Politik gibt es immer wieder konkrete Unterstützung, die dann zu eindeutigen Verbesserungen an Kreuzungen oder anderen kritischen Stellen führt.
Thomas: Und grundsätzlich merken wir natürlich, dass Druck aus der Bevölkerung, zum Beispiel durch Anrufe bei den zuständigen Stellen oder eine einfache E-Mail an den Melde-Michel, auch etwas bewegen kann. Zumal wir ja nichts Besonderes fordern – wir verlangen lediglich, dass die Zuständigen ihre Arbeit machen, dass sie ihrer Dienstpflicht nachkommen. Nehmen wir als Beispiel die uralte Forderung des ADFC: „Mehr Platz fürs Rad“. Da geht es ja nicht darum, dass wir auf den Straßen Schlangenlinien fahren wollen. Nein, mehr Platz bedeutet eben auch mehr Sicherheit – wir sind dadurch besser sichtbar, Radfahrende haben mehr Platz, auszuweichen oder noch rechtzeitig zu bremsen. Und wenn die Haltelinie für Fahrräder nicht neben dem Vorderreifen des LKW verläuft, sondern fünf Meter davor, dann werden wir auch aus einem LKW-Führerhaus noch gut gesehen. Mittlerweile werden fast 80 Prozent aller Wege in Hamburg mit dem Umweltverbund zurückgelegt, mit dem Auto gerade mal gut 20 Prozent, aber trotzdem lässt sich der Senat willig vor den Karren der Autolobby spannen – als Beispiel sei hier das so genannte Moratorium zum Parkplatzabbau genannt. Das halten wir für falsch – nicht nur für Radfahrer*innen, sondern für alle Menschen in dieser Stadt, für die Lebensqualität, für die Zukunft. Darum fordern wir die Vision Zero, die Reduzierung des LKW-Verkehrs auf Hamburgs Straßen und die gezielte Förderung umweltfreundlicher Verkehrsmittel und -wege.
Zum Abschluss noch die Frage: Was wünscht ihr euch, um eure Arbeit noch wirkungsvoller und effektiver gestalten zu können?
Die Antwort ist einfach: Mehr Menschen, die uns mit ihrer Zeit und ihren Fähigkeiten unterstützen! Wir sind für alle Interessierten offen und freuen uns über jede und jeden.
Interview: Leo Strohm
Inne halten
Eines der weißen Ghostbikes steht ganz in der Nähe meines Wohnortes. Vor einigen Jahren starb an dieser Kreuzung eine junge Frau, überfahren von einem rechtsabbiegenden LKW-Fahrer. Wenn ich dort vorbeikomme, denke ich an jenen Montag zurück und bin froh, dass ich schon bei der Arbeit war. Meine Kamerad*innen von der Freiwilligen Feuerwehr, die zu diesem Einsatz ausrücken mussten, hatten nicht so viel Glück. Sie mussten feststellen, dass der jungen Frau nicht mehr geholfen werden konnte. Sahen den am ganzen Körper zitternden, unter Schock stehenden Lkw-Fahrer. In den folgenden Tagen war bei allen tiefe Betroffenheit zu spüren.
Doch dann geschah etwas, was ich seitdem immer wieder vor allem bei Männern bemerke, die viel und gern selbst mit dem Auto unterwegs sind. Bei einigen setzte eine Art Abwehrhaltung ein. Ein Gespräch ist mir besonders im Gedächtnis geblieben. Es sei wahrscheinlich, dass die Radfahrerin beim Fahren auf ihr Handy geschaut hätte, sie trüge also eine Mitschuld. Ohnehin müsste Radfahrenden doch bewusst sein, dass sie vorsichtig fahren müssten. Viele seien ja völlig rücksichtslos im Straßenverkehr unterwegs. Dass Berufskraftfahrer vorschriftsmäßig mit Schrittgeschwindigkeit abbiegen, sei unrealistisch.
Es machte mich wütend, dass einer jungen Frau, die bei Grün die Straße überqueren wollte, die Schuld an ihrem eigenen Tod gegeben wurde. Inzwischen habe ich dieses Phänomen schon häufiger erlebt und denke, es ist ein simpler Schutzmechanismus. Es ist so viel einfacher, den Getöteten die Schuld zu geben, anstatt Verkehrstote als Symptom einer mangelhaften Infrastruktur, ausbeuterischer Arbeitsbedingungen von Berufskraftfahrenden und einer autozentrierten Politik auszumachen. Es ist unbequem, die eigene Fahrweise kritisch zu hinterfragen und sich § 1 der Straßenverkehrsordnung noch einmal eindringlich vor Augen zu führen: „Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht.“
Was wäre die sinnvolle Reaktion auf den Tod einer Radfahrerin durch einen rechtsabbiegenden Auto- oder Lkw-Fahrer? Künftig bewusst darauf zu achten, den möglicherweise lebensrettenden Schulterblick zu machen. Sich daran zu erinnern, dass es Verkehrsteilnehmende gibt, auf die besondere Rücksicht genommen werden muss, für die man mitdenken muss. Sich solidarisch mit strukturell benachteiligten Verkehrsteilnehmenden wie Radfahrenden zu zeigen und auf einen Wandel zu drängen.
Wenn ich das Ghostbike sehe, denke ich daran, wie die Angehörigen der jungen Frau sich wohl fühlen, wenn sie hier vorbeikommen. Frage mich, ob der Lkw-Fahrer seinen Beruf weiter ausüben kann und wie oft er an die junge Frau denkt, die er getötet hat. Und ich versuche mir noch einmal vor Augen zu führen, was im Verkehr wirklich wichtig ist: Seien wir freundlich und rücksichtsvoll unterwegs, denken wir für andere mit und achten wir aufeinander.
Mina Schüttmann
UNSERE FORDERUNGEN
Die wichtigsten verkehrspolitischen Forderungen zur Verhinderung tödlicher Unfälle im Straßenverkehr entstammen mitnichten dem Handbuch radikaler Autogegner*innen, sondern der Straßenverkehrs-Ordnung (StVO):
StVO § 3 (2a): Wer ein Fahrzeug führt, muss sich gegenüber Kindern, hilfsbedürftigen und älteren Menschen, insbesondere durch Verminderung der Fahrgeschwindigkeit und durch Bremsbereitschaft, so verhalten, dass eine Gefährdung dieser Verkehrsteilnehmer*innen ausgeschlossen ist.
StVO § 9 (3): Wer abbiegen will, muss […] Fahrzeuge durchfahren lassen, […], Fahrräder […] auch dann, wenn sie auf oder neben der Fahrbahn in der gleichen Richtung fahren.
StVO § 9 (6): Wer ein Kraftfahrzeug mit einer zulässigen Gesamtmasse über 3,5 t innerorts führt, muss beim Rechtsabbiegen mit Schrittgeschwindigkeit fahren, wenn auf oder neben der Fahrbahn mit geradeaus fahrendem Radverkehr oder im unmittelbaren Bereich des Einbiegens mit die Fahrbahn überquerendem Fußgängerverkehr zu rechnen ist.
Damit diese rechtlichen Vorgaben endlich mehr Beachtung finden, verlangen wir vom Hamburger Senat:
• sich für Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit innerorts auf Bundesebene einzusetzen,
• mehr und wirksamere Geschwindigkeitskontrollen,
• alle Furten besonders an Hauptverkehrsstraßen mit hohem Lkw-Anteil sofort hamburgweit rot zu markieren,
• bis zum Abschluss dieser Markierungsarbeiten ein Fahrverbot für Lkw ohne Abbiegeassistenten,
• technische Innovationen wie Abbiegeassistent und Notbremssystem müssen in allen Kfz verpflichtend werden,
• Bau von sicherer und vor allem fehlerverzeihender Infrastruktur.