Muss das sein?

Verkehr ist Stress, vor allem in der Großstadt. Und unter Stress sind wir reizbarer, ungeduldiger und fehleranfälliger als im ausgeglichenen Zustand. Wir wollten wissen, warum das so ist und was wir dagegen tun können.

Darum haben wir mit dem Verkehrspsychologen Rüdiger Born gesprochen.

RadCity : Herr Born, unsere wichtigste Frage an Sie als Verkehrs­psychologe gleich zum Start: Woran hakt es, dass wir nicht mehr Miteinander im Verkehr erleben?

Rüdiger Born: Im Verkehr sind wir auf natürliche Weise in einer Konkurrenzsituation zueinander. Alle möchten von A nach B kommen und haben dabei ihre jeweils eigenen Vorstellungen. Oft wollen zwei oder sogar drei Parteien denselben Nutzen erzielen – möglichst zügig vorankommen, zum Beispiel – und insofern haben wir häufig Anlass, uns gegenseitig eher als lästig und störend zu erleben.

Warum sind viele Menschen im Verkehr so viel aggressiver als in anderen Lebenssituationen?

Wir haben im Verkehr nicht so viele kultivierende Elemente. Im Supermarkt, wenn wir beide gleichzeitig an die Kasse wollen, muss ich die Situation anders lösen, als ich es allein in meinem Auto tun kann. Soziale Kontrolle fehlt im Auto weit­gehend, genau wie auch die menschlichen Kontaktmöglichkeiten. Das kann dazu führen, dass insgesamt mehr Aggression im Spiel ist. Auch die Sanktionierung von Fehlverhalten ist in anderen Lebensbereichen viel größer. Ihre*n Nebenbuhler*in um dieselbe Position im Job können Sie nicht einfach ungestraft verprügeln. Im Verkehr hingegen können Sie viele Regelwidrigkeiten begehen, ohne dafür bestraft zu werden.

Ist der Verkehr also quasi das Ventil des angestauten Alltagsstresses?

Es kann durchaus vorkommen, dass man sich im Job streitet und sich das dann auf den Fahrstil auswirkt. Aber es gibt kein Naturgesetz, das nach einem geschützten Raum verlangt, wo man Dampf ablässt, weil man sonst explodiert. Sich aktiv beruhigen zu können, ist eine Kompetenz, die einem in vielen Lebensbereichen nutzt.

Eine aggressive Fahrweise geht also nicht immer mit heißen Gefühlen einher?

Nehmen wir das Fahrradfahren. Viele Menschen sparen lieber ein paar Sekunden dadurch ein, dass sie ein Stück auf dem Gehweg fahren oder an einer Fußgänger*innenampel nicht absteigen. Die Fragen, die zur Kultivierung beitragen könnten, wären: Was bin ich mir schuldig? Wie möchte ich mit meinen Mitmenschen umgehen? Wenn ich regelkonform zwanzig Minuten für die Strecke brauche, möchte ich das wirklich mithilfe von Verstößen auf achtzehn Minuten drücken? Viele würden zu dem Ergebnis kommen: Ich möchte grundsätzlich regelkonform handeln. Im Eifer des Gefechts kommt es aber immer wieder vor, dass wir andere Entscheidungen treffen. Psychologisch gesehen kann das einen verstärkenden Effekt haben: Wenn etwas erfolgreich ist und unbestraft bleibt, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ich es wieder mache.

 

Lässt sich das auch umkehren? Kann ich durch eigenes korrektes Verhalten bei anderen eine Veränderung bewirken?

Ich denke ja, sofern Ihr Verhalten für andere wahrnehmbar ist. Da sehen andere: So geht’s ja auch. Gleichzeitig kann man sich dadurch aus der Opferrolle herausbegeben. Eine Erfahrung aus der Paartherapie lautet: Wenn eine Person sich ändert, ändert sich auch die andere. Übertragen würde das bedeuten, dass mein partnerschaftliches, rücksichtsvolles Verhalten im Verkehr einen günstigen Einfluss auf andere Verkehrsteilnehmer*innen hat, auch wenn ich das oft gar nicht mitbekomme.

Partnerschaftliches Verhalten kann aber sehr schwerfallen, wenn man mehrfach schlechte Erfahrungen im Verkehr gemacht hat.

Wenn einem immer wieder Gedanken an bestimmte Konfliktsituationen oder gar Unfälle kommen, dann kann man versuchen, einen besseren Umgang damit zu lernen. Wobei es nicht darum geht, Erinnerungen vergessen zu machen, sondern darum, die erlebte Bedrohung oder Angst abzuschwächen. Das ist tatsächlich ein Appell an Menschen, denen etwas Schlimmes nachhängt, sich ins Gesundheitssystem zu begeben und beispielsweise eine Trauma-Therapie zu machen.

Und leider bleibt vieles unbestraft, was gerade für Fahrradfahrer*innen Gefahren birgt.

Viele Regeln sehen auf dem Papier gut aus, müssen aber auch umgesetzt werden. Die Gesetze sind ja eigentlich klar, aber wir haben da ein Vollzugsdefizit.

Lassen Sie uns auf den äußeren Rahmen schauen. Was halten Sie von Tempo 30 in der Stadt?

Einheitlicheres Tempo würde wahrscheinlich zu einer geringeren Konkurrenzsitua­tion führen. Die Durch­schnitts­geschwindigkeit der Autos würde dabei im Vergleich zu heute vermutlich gar nicht doll sinken, weil dieser langsamere,  homogenere Verkehr besser fließt und weniger durch Unfälle und Tankstopps aufgehalten wird. Aber wahrscheinlich würden viele Autofahrer*innen es erst einmal als Schmerz empfinden. Hinter der Anschaffung eines Autos stehen ja auch bestimmte Frei­heitserwartungen. Erst später merkt man: So geht’s ja auch.

Was könnte neben einem Tempolimit helfen, den Verkehr insgesamt stressfreier zu machen?

Mehr Fahrräder auf der Fahrbahn, wo Fahrzeuge eigentlich auch hingehören. Daran müssten sich die Autofahrer*innen dann gewöhnen.

Die Radwegbenutzungspflicht ist etwas, worüber viele tatsächlich nicht gut Bescheid wissen …

Es bestehen definitiv Missverständnisse bei Autofahrer*innen, warum Fahrradfahrer*innen die Straße benutzen, wenn es auch einen Radweg gibt. Meines Erachtens ist ein solches Desinteresse an Regelungen oftmals im Eigeninteresse begründet. Wenn mein Verständnis dazu führt, dass ich zurückstecken muss, erscheint mir das Angebot als nicht besonders attraktiv. Trotzdem wäre durch bessere Aufklärung und bessere Haltung der einzelnen Verkehrsteilnehmer*innen einiges zu erreichen.

Interview: Alexander Ballas und Leo Strohm

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