Fahrradfahrer

Bereit zur Selbstkritik © Arndt Hofmann

Radfahren nach Regeln – ein Gespräch

Der Versuch eines Streitgesprächs innerhalb des Fahrradclubs über das, was uns an anderen Radfahrenden nervt.

Am Anfang war die Idee: Wie wäre es, wenn wir uns mal auf einen Perspektivwechsel einließen? Wenn wir nicht mit dem Finger auf alle die zeigten, die uns Radfahrenden das Leben und das Vorankommen so schwer machen, sondern uns den Klagen über all die „Zweirad-Rowdys“ stellten, die sich nie um rote Ampeln kümmern, willkürlich über Gehwege brettern, mit ihrer Rücksichtslosigkeit Fußgänger*innen und alle anderen Verkehrsteilnehmer*innen gefährden und darum auch selbst schuld sind, wenn sie angefahren werden – oder ihnen noch Schlimmeres passiert.

Wir wollten also ein Streitgespräch führen. Aber mit wem? Der ADAC als „Lieblingsgegner“ erschien uns zu nahe liegend. Darum haben wir uns an die Fahrradstaffel der Polizei gewandt, haben auch die Verkehrswacht, die Verkehrsdirektion und die Innenbehörde als oberste Verwaltungsinstanz angefragt. Leider gab es von überall nur Absagen – „aus Termin- und Kapazitätsgründen“. Eine Anfrage an die für den Busbetrieb im HVV zuständige Hochbahn AG wurde ebenfalls abschlägig beschieden, weil ihr die „dargestellte Gesprächskonstellation“ zu schief erschien. Und der Fahrlehrerverband hatte leider auch keine Zeit. Einzig bei Fuss e. V. sind wir auf offene Ohren gestoßen – vielen Dank dafür! Dennoch haben wir uns entschlossen, zunächst einmal die unterschiedlichen Meinungen innerhalb des Fahrradclubs zu Wort kommen zu lassen.

Amrey Depenau: Fangen wir doch einfach mal mit der Ausgangsfrage an: Wo ist unsere Grenze? Wo fängt es an, dass wir von anderen Radfahrer*innen genervt sind?

Dirk Lau: Ich kritisiere keine anderen Menschen auf dem Rad, solange ich genug mit motorisierten Verkehrsteilnehmer*innen zu tun habe, die mich auf der Straße alltäglich gefährden. Und solange Radfahrer*innen im Straßenverkehr getötet werden, obwohl sie selbst alles richtig gemacht haben, kann ich mich auch nicht über Regelverstöße einzelner Radfahrer*innen aufregen.

Amrey: Es ist ja oft auch nicht so einfach zu beurteilen. Wo weicht jemand aus Angst vor dem Autoverkehr auf den Fußweg aus, und wo geht es jemand anderem nur darum, ein paar Sekunden zu sparen? Je nachdem würde ich die Situation vermutlich unterschiedlich beurteilen. Oder sage ich: Das ist kontra-
produktiv. Wir haben eine Infrastruktur, für die wir lange gekämpft haben, also halte dich bitte auch daran.

Ulrike Hanebeck: Ich sehe zwei unterschiedliche Dinge, über die ich mich ärgere. Manchmal werde ich von Rennradler*innen viel zu knapp überholt, wenn ich mich mit dem Anhänger gerade nicht sicher fühle, aber normalerweise sage ich da gar nichts. In der Regel sind die sowieso schon wieder weg, weil ich ja viel langsamer bin. Aber ich bekomme sehr viel und zum Teil sehr beleidigende Kritik von Fahrradfahrer*innen in sozialen Medien, wenn ich mich als relativ langsame Fahrerin oute. Das passiert vor allem dann, wenn ich mit größeren oder sperrigeren Rädern unterwegs bin. Dann halten die Autofahrer*innen plötzlich Abstand, und die anderen Fahrradfahrer*innen scharren mit den Hufen, weil sie nicht vorbeikommen und Angst um ihren Dreißigerschnitt haben. Dann merkt man den Druck, das Geschnaufe und das leise Gezeter von hinten.

Andrea Kupke: Also ich finde, wenn andere gefährdet werden, dann ist auf jeden Fall eine Grenze überschritten, und das ist ganz oft bei Geisterradler*innen der Fall. Wenn mir jemand auf einem Radweg entgegen kommt, der schon für eine Richtung eigentlich zu schmal ist, dann ist das ein Riesenproblem. Dann muss ich wieder ausweichen und gefährde die Fußgänger*innen. Das gilt auch für Radfahrende, die auf Gehwegen rumeiern. Es wird doch für alle sicherer, wenn alle gebündelt auf einer Strecke unterwegs sind. Natürlich nerven die unterschiedlichen Geschwindigkeiten, aber man kann ja auch auf Radfahrstreifen durchaus überholen, nur vielleicht nicht an jeder Stelle.

Ulrike: Objektiv gebe ich dir völlig recht, gerade was das Thema Sicherheit angeht. Aber bei vielen unterscheidet sich die gefühlte Sicherheit sehr stark von der statistisch objektivierbaren, und das spielt dann halt auch mit rein. Zumal auch auf Radfahrstreifen der Überholabstand gilt, der ja längst nicht immer eingehalten wird, und das verunsichert viele Leute, was ich irgendwo nachfühlen kann.

Amrey: Ich fand gerade das Thema Radfahrstreifen interessant. Da haben wir
ja ein großes Dilemma, weil wir eine durchgezogene Linie haben, die uns das Überholen mit Sicherheitsabstand nicht erlaubt. Da ist also wieder eine Infrastruktur hergestellt worden, die uns StVO-konformes Verhalten erschwert. Ich halte mich trotzdem dran, aber andere nicht, und die rauschen dann mit fünfzig Zentimetern
Abstand an mir vorbei.

Ulrike: Kann ich bestätigen. Und richtig gefährlich wird es dann, wenn die feststellen, dass ich vorne eine Spurbreite von einem Meter habe. Manche ignorieren dann ja den weißen Strich und ziehen einfach durch.

Andrea: Solange Autos die durchgezogene Linie zum Parken oder Abbiegen kreuzen müssen, hab ich auch kein Problem damit, die in die andere Richtung zu überfahren, wenn ich einem Hindernis ausweichen muss, links abbiegen oder jemanden überholen will.

Amrey: Apropos Fahrradstreifen. Was mir immer wieder auffällt, ist, dass viele Radfahrer*innen da ziemlich weit rechts fahren. Denen würde ich gerne mal sagen: Fahr doch weiter in der Mitte, da bist du viel angenehmer unterwegs und außerdem sicherer, auch wegen der Gefahr der sich öffnenden Autotüren.

Ulrike: Na ja, es wird ja von allen Seiten permanent betont, wie gefährlich das Radfahren ist und wie sehr wir auf den Auto-
verkehr achten müssen. Damit wird dieses Märchen, dass man möglichst weit an der Seite fahren muss, immer noch weiter tradiert. Dabei ist das objektiv falsch, was selbst viele Verkehrspolizist*innen noch nicht mitgekriegt haben.

Dirk: Und durch solche Diskussionen, wie wir sie jetzt gerade führen, zementieren wir dieses Bild leider weiter. Der Autoverkehr setzt seit Jahrzehnten den Standard in Deutschland, und Radfahren wird von interessierter Seite aus als gefährlich erzählt. Diese Haltung wirkt in die Verkehrspolitik hinein, und wenn wir uns darüber unterhalten, was Radfahrende alles falsch machen, dann bedienen wir genau dieses, nun ja, Narrativ. Für mich ist klar: Wer in Hamburg Rad fährt, muss Regeln brechen – das hat nicht zuletzt infrastrukturelle Gründe. Diese Infrastruktur und die geltenden Verkehrsregeln sind von Autofahrenden für Autofahrende gemacht, und solange wir ein entsprechendes Straßenverkehrsrecht haben, halte ich mich nicht an diese Regeln. Rücksicht auf schwächere Verkehrsteilnehmer*innen immer! Aber Verständnis für Autofahrer*innen? Kaum.

Ulrike: Ich erlebe immer wieder, dass mich die problematische Infrastruktur in Konflikte zwingt, gerade wenn ich mit einem breiteren Zweirad unterwegs bin. Dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder, die Leute finden das Fahrzeug geil und schlucken ihr Erschrecken im Bremsvorgang runter, oder ich kriege eine Schreiattacke ab – und dann ist meine eigene Laune auch im Eimer.

Dirk: Deswegen bedeutet für mich Regelbruch tatsächlich oft auch Sicherheit. Mittlerweile sagen selbst Versicherungen, dass Radfahrer*innen eine Radwegbenutzungspflicht in bestimmten Fällen ignorieren sollten, um sich nicht selbst zu gefährden und eine Mitschuld bei Unfällen zu riskieren, zum Beispiel wenn Bäume oder Mülltonnen auf dem Radweg stehen. Also: Wenn ein Weg nicht benutzbar ist, dann ignoriere ich zu meiner eigenen Sicherheit die eventuell dort angeordnete Radwegebenutzungspflicht. Auf guten Wegen fahre ich dagegen ganz zwangslos.

Andrea: Na ja, ich finde es schon problematisch, Regeln nach eigenem Ermessen zu brechen. Wenn ich zum Beispiel den Sicherheitsabstand beim Überholen nicht einhalten kann, dann muss ich halt eine Weile langsamer
fahren. Wenn Autofahrer*innen so argumentieren, weil die Fahrbahn zu schmal oder der Gegenverkehr zu stark ist, sind wir ja auch empört, und zwar zu recht.

Amrey: Aber aus meiner Sicht ist das ein Unterschied, weil ich auf dem Rad zwei konkurrierende Regeln gegeneinander abwäge, während Autofahrer*innen, die mich ohne genügenden Sicherheitsabstand überholen, einen klaren Regelbruch begehen.

Dirk: Ich finde, dass bei dieser Abwägung die Frage der Gefährdung absolut entscheidend ist. Wenn ich nachts an einer T-Kreuzung bei Rot geradeaus weiterfahre, gefährde ich niemanden. Natürlich gilt auch dabei für mich als oberstes Gebot: Rücksicht auf schwächere Verkehrsteilnehmer*innen.

Andrea: Genau so was schlägt mir dann in den verkehrspolitischen Ausschüssen entgegen. „Radfahrer*innen machen ja sowieso, was sie wollen“ ist da der Standardspruch. Und wenn ich manchmal an einer Kreuzung stehe und mir ansehe, was da alles los ist, dann kann ich diese Perspektive durchaus nachvollziehen. Aber wenn ich als Verkehrsteilnehmerin ernst genommen werden möchte, muss ich mich an die Regeln halten.

Ulrike: Auch dann, wenn sie offensichtlich sinnlos sind. Manchmal empfinde ich das einfach als pure Schikane, und dann kann ich wirklich nachvollziehen, dass man sich da-ran nicht halten will.

Andrea: Das Problem besteht darin, dass auch der Fußverkehr geschützt werden muss. Und das erfordert manchmal eben Maßnahmen und Regeln, die auch wir Fahrradfahrer*innen beachten müssen.

Amrey: Deswegen finde ich es ja grundsätzlich gut, wenn der Fahrradverkehr gerade an Kreuzungen auf der Fahrbahn geführt wird.

Dirk: In Hamburg wird leider im Moment massiv das Gegenteil praktiziert. Dort werden Radfahrende besonders vor als „komplex“ bezeichneten Kreuzungen immer wieder runter von der Fahrbahn gezwungen, um den „Verkehrsfluss“ der Autofahrenden zu sichern.

Andrea: Ja, da sind wir beim Stichwort „gefühlte Sicherheit“. Das ist ja momentan ein Riesenthema, was mich immer wieder auch ganz schön sauer macht. Weshalb? Ich bin fest davon überzeugt, dass wir nicht für jedes Verkehrsmittel eine neue Infrastruktur brauchen, sondern vielmehr die Bedingungen so verändern müssen, dass das Radfahren auf der Fahrbahn für alle Menschen angstfrei möglich ist.

Amrey: Andererseits sitzen hier vier Menschen, die vermutlich relativ selbstbewusst und angstfrei Rad fahren. Das geht natürlich nicht allen so. Das ist eine Gratwanderung, und das finde ich auch spannend. Ich stehe der in den letzten Jahren neu gebauten Radinfrastruktur größtenteils sehr positiv gegenüber und nutze die gerne, auch wenn eine Fahrradstraße wie die Veddeler Brückenstraße nervt, weil sie voller Autos ist. Aber der Radfahrstreifen auf der Verbindungsbahn, der ist eine echte Verbesserung gegenüber vorher und wird wahnsinnig viel genutzt.

Dirk: Das mag sein, aber gute, sichere und fehlerverzeihende Infrastruktur sieht anders aus. In der Verbindungsbahn überholen dich auf einem knapp zwei Meter schmalen Radfahrstreifen dicke Lkw mit einem Tempo von 60 km/h und oft nur 50 Zentimetern Abstand – für Kinder und weniger selbstbewusste Radfahrer*innen ist das alles andere als angenehm – subjektiv wie objektiv.

Ulrike: Deswegen dürfen wir uns nicht selbst beschneiden und uns mit Halbheiten zufrieden geben.

Andrea: Das gehört ja ganz klar zu unseren wichtigsten Forderungen: dass bei den vierstreifigen Straßen ein Fahrstreifen für den Radverkehr umgewidmet wird. Das steht genau so auch in unseren Stellungnahmen. Aber auf Hauptverkehrsstraßen hat der Verkehrsfluss für die Innenbehörde nach wie vor die höchste Priorität, und das bedeutet, dass wir uns an vielen Stellen auf Kompromisse einlassen müssen.

Dirk: Oder wir sagen: „Unsere Forderungen sind klar, und wenn ihr was anderes baut, dann ist das eure Verantwortung. Aber unseren Segen kriegt ihr nicht.“

Andrea: Aber dann vertun wir vermutlich die Chance, uns an dem, was am Ende gebaut wird, im Detail zu beteiligen und so die größten Fehler zu verhindern.

Ulrike: Ich finde, es fehlt bei dieser Diskussion eine Kleinigkeit, nämlich, dass die Autofahrer*innen dazu gebracht werden, die Spielregeln einzuhalten. Wenn das so wäre, dann wären ja auch die umstrittenen Radfahrstreifen in Mittellage kein Problem. Aber da fehlt es am Willen, regelkonformes Verhalten auch mit empfindlichen Strafen durchzusetzen. Und dann brauche ich mich nicht zu wundern, dass immer wieder schreckliche Unfälle passieren. Wir haben genügend Regeln, die den Radverkehr eigentlich schützen sollten. Wenn die aber nicht durchgesetzt werden, dann ist es fast egal, welche Infrastruktur man hat.

Amrey: Da wären wir wieder bei der Frage, wie wir mehr Akzeptanz für unsere Anliegen schaffen. Durch Regeltreue, weil sich die anderen dann weniger provoziert fühlen?

Dirk: Oder durch Regelbruch, weil andere dann vielleicht merken, dass das Fahrrad das bessere Verkehrsmittel ist?

Ulrike: Oder hat es letztendlich gar nichts mit unserem Verhalten zu tun?

Dirk: Die Hoffnung, dass du durch individuelles, vorbildhaftes Verhalten andere Menschen „mitnehmen“ und für das Fahrrad begeistern kannst, teile ich nicht. Autofahren ist einfach zu billig und wird strukturell immer noch viel zu stark gefördert. Es muss also in erster Linie über den Geldbeutel laufen …

Amrey: … und es muss eine klare Politik gemacht werden. Es gibt ja positive Vorbilder wie beispielsweise in Paris.


Wir brechen hier ab und bedanken uns sehr herzlich bei den vier Teilnehmer*innen. Wer sich an der Diskussion beteiligen möchte, kann dies gern per E-Mail tun: RadCity [at] hamburg.adfc.de


Dieser Artikel stammt aus der aktuellen RadCity 1/2023

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