Schulstraßen
Straßen sind für alle da! Das ist das Motto von Initiativen, die sich für die Einrichtung von Schulstraßen einsetzen – damit Kinder sicher und selbständig auf unseren Straßen unterwegs sind.
Die Sommerferien in Hamburg sind schon wieder Vergangenheit, der normale Trubel vor den Schulen ist zurück. Da stellt sich die Frage, welcher Verkehrsumgebung wir unsere Kinder auf dem Schulweg eigentlich aussetzen wollen. Kurz vor Unterrichtsbeginn bietet sich vor vielen Grundschulen und Kitas in Hamburg ein ähnlicher Anblick: Die berühmten „Elterntaxen“ transportieren die Kinder direkt bis vors Schultor, die Straße ist völlig verstopft. Die Verkehrslage ist unübersichtlich, für Kinder noch mehr als für Erwachsene. Wie sollen sie unter diesen Bedingungen selbständig und sicher zur Schule kommen?
Blick über die Grenzen
Andere europäische Metropolen sind hier schon deutlich weiter. In Wien und London beispielsweise sorgen temporäre Absperrungen dafür, dass der Bereich direkt vor den Schulen kurzzeitig autofrei wird. Die sogenannten temporären Schulstraßen nach Wiener Modell setzen ein Durchfahrtverbot für Kraftfahrzeuge durch, meist für eine halbe Stunde zum Schulbeginn und Schulschluss. So wird ein Schutzraum für die Kinder geschaffen, in dem sie den letzten Abschnitt des Schulwegs ungefährdet und selbständig zurücklegen können. In Wien hat man mit einer Begleituntersuchung nicht nur festgestellt, dass die Schulstraßen mehr Sicherheit für die Kinder bedeuten, es kommen auch mehr Kinder zu Fuß oder mit dem Rad zur Schule. Die Anzahl der Kinder, die mit dem Auto gebracht werden, sinkt.
In Paris wurden die Schulstraßen – „rues aux écoles“ – sogar noch weiter gedacht. Dort sorgen dauerhafte bauliche Absperrungen vor Kitas und Grundschulen für autofreie Bereiche. Es gilt Schrittgeschwindigkeit, die zu Fuß Gehenden haben Vorrang. Durch die Umgestaltung ganzer Straßenzüge wird nicht nur der Schulweg sicherer, auch wird die Aufenthaltsqualität erhöht. Die Straßen werden mit Obstbäumen und Beeten bepflanzt, teilweise werden Spielgeräte aufgestellt. Paris plant bis 2026 den Bau von hundert weiteren Schulstraßen mit dem Ziel einer flächendeckenden Verkehrsberuhigung vor allen Schulen und Kitas der Stadt.
Deutschland hinkt hinterher
In Deutschland gibt es bisher keine verstetigten Schulstraßen, die Schulstraße als verkehrliche Einrichtung kommt in der Straßenverkehrsordnung (StVO) nicht vor. In vielen Städten, beispielsweise in Köln, Berlin, Essen, Bonn und Ulm, laufen aber temporäre Pilotprojekte. Vor allem durch das KidicalMass-Aktionsbündnis ist das Konzept der Schulstraße bundesweit bekannt geworden. Das Aktionsbündnis fordert, eine entsprechende Regelung explizit in die StVO aufzunehmen, um den Kommunen die Einrichtung von Schulstraßen zu erleichtern. Mit Beteiligung des ADFC setzt sich das Bündnis auch in Hamburg dafür ein. Denn Schulstraßen wirken sich positiv auf die Sicherheit und Selbständigkeit der Kinder aus. Die Verkehrsteilnehmenden von morgen lernen, dass es Alternativen zum Auto gibt. Damit sind die Schulstraßen nicht zuletzt auch ein wichtiger Baustein der Verkehrswende.
Mina Schüttmann
Versuch macht kluch!
Ein Interview zum Thema „Schulstraßen“ mit Karmen Albrecht, Mitglied der Verkehrs-AG an der Schule Wesperloh in Hamburg-Osdorf.
RadCity: Ihr habt in diesem Jahr schon zwei Aktionswochen rund um das Thema Schulstraße organisiert. Wieso ist das hier in einer beschaulichen Nebenstraße in Osdorf überhaupt ein Thema?
Karmen Albrecht: Vielleicht gerade, weil die Schule mitten in einem ruhigen Wohngebiet liegt. Trotzdem werden viele Kinder von den Eltern mit dem Auto so dicht wie nur möglich vor das Schultor gefahren. Diese so genannten Elterntaxis haben zu ständigen Staus und vielen gefährlichen Situationen rund um die Schule geführt. Das wollen wir so nicht mehr hinnehmen. Deshalb haben wir angefangen, nach Alternativen zu suchen und möglichst viele Kinder zu motivieren, zu Fuß oder mit dem Fahrrad zur Schule zu kommen.
So eine Schulstraßenaktion zu organisieren ist doch bestimmt ganz schön aufwändig. Wie seid ihr darauf gekommen?
In unserem Kreis-Elternrat gibt es seit anderthalb Jahren einen Arbeitskreis „Schulmobilität und Verkehrssicherheit“, einfach weil das Thema Verkehr an allen Schulen ein Riesenthema ist. Dieser Arbeitskreis trifft sich in ungefähr sechswöchigen Abständen an verschiedenen Schulen und schaut sich jeweils die Situation vor Ort an. Wo liegen die Probleme? Was haben die Leute schon für Aktionen gemacht, um etwas zu verbessern? Und dann waren wir am 28. Februar 2024 hier bei uns. Bei der routinemäßigen Begehung haben wir uns dann ziemlich ernüchtert angeschaut, weil sich seit über einem Jahr immer noch nichts entscheidend verbessert hatte. Zum Beispiel haben wir vor über einem Jahr diese Poller vor dem Schultor bekommen, nur um festzustellen, dass die eher kontraproduktiv sind, weil die Autos bei einer Begegnung jetzt nicht mehr ausweichen können und teilweise rückwärts fahren müssen, um wieder raus zu kommen. Und wenn dann Kinderfahrräder dazwischen sind, ist es noch gefährlicher als vorher. Bei derselben Sitzung haben wir von dieser Schulstraßenaktion gehört. Kirsten Jahn und ich haben uns intensiver damit beschäftigt und schnell gemerkt, dass man über die Seite der Kidical Mass sehr gutes Material an die Hand bekommt (https://tinyurl.com/how-to-schulstrasse). Und dann war klar, dass wir das auch machen wollen. Die Schulleitung war gleich mit an Bord, und wir haben eine Homepage eingerichtet, um sämtliche Informationen sammeln und weitergeben zu können (schulstrasse-wesperloh.de).
Wie waren denn die ersten Reaktionen?
Wir haben relativ schnell mit den Nachbarn und anderen engagierten Personen und Gremien in Osdorf Kontakt aufgenommen und bei der lokalen Politik um Unterstützung für unsere Idee geworben. Die meisten haben wirklich sehr positiv reagiert. Natürlich haben wir auch Gegenwind gespürt, aber letztendlich war ich überrascht, wie intensiv sich viele Menschen mit dem Thema beschäftigt haben und wie unser Vorhaben dann schnell immer konkreter geworden ist. Wir haben einfach versucht, von Anfang an möglichst viele Leute mitzunehmen.
Also insgesamt klingt das ja total durchdacht, finde ich.
Na ja, wir mussten schon auch Lehrgeld bezahlen. So hatten wir ursprünglich einen Verkehrsaktionstag geplant, an dem wir mehr oder weniger den ganzen Tag lang die Straße für Autos sperren lassen wollten. Davon haben wir dann aber in Abstimmung mit der Versammlungsbehörde wieder Abstand genommen, weil das sehr aufwändig geworden wäre. Stattdessen sind wir kleiner gestartet, mit einer morgendlichen Sperrung für eine Woche und einer zweistündigen Abschlusskundgebung am Freitag mit Kreidemalerei und Sicherheitsparkours.
In der ersten Juliwoche habt ihr dann wieder eine Woche lang jeden Morgen für die Schulstraße und weniger Elterntaxis demonstriert. Was habt ihr da im Einzelnen gemacht?
Von montags bis freitags war die Zufahrtsstraße zur Schule jeweils von 7.40 Uhr bis 8.10 Uhr für den Autoverkehr gesperrt – alles angemeldet und von der Polizei begleitet und gesichert. Das hat übrigens sehr gut geklappt, die Beamten haben uns da wirklich gut unterstützt. In der Zeit gab es auf dem Parkplatz Taubnesselweg eine „Drop-off-Zone“ und einen „Laufbus“ für die letzte Strecke bis zur Schule. Dazu gab es noch einen roten Teppich – das ist auch eine Demonstrationsform, mit der auf problematische Kreuzungen aufmerksam gemacht werden kann. Am Freitag haben wir dann sogar noch einen Bicibus organisiert, mit Musik und Lautsprecher-Fahrradanhänger. Der Start war an der Flurstraße in Lurup, und dann hat der Bicibus unterwegs rund dreißig Kinder eingesammelt, die gemeinsam zur Schule geradelt sind. Das hat allen sehr viel Spaß gemacht. Die Abschlusskundgebung am Freitag war eine zweistündige alternative Nutzung des Straßenraums direkt vor der Schule. Dort wurde mit etwa 300 Kindern getanzt, es wurden Ideen für die Straßen der Zukunft entwickelt und Matheunterricht einmal anders erlebt. Am Freitagnachmittag haben wir die Woche abgerundet mit einem Verkehrsfest auf dem Schulhof.
Habt ihr denn das Gefühl, dass der ganze Aufwand sich gelohnt hat? Wie stehen Eltern und Kinder inzwischen zu der Idee der Schulstraßen?
Im Großen und Ganzen sehr positiv. Wie gesagt, es gibt auch einzelne Gegenstimmen, aber insgesamt wird die Idee von den meisten befürwortet. Wobei wir schon deutlich gemerkt haben, dass der Lerneffekt nach der Aktionswoche Anfang Juli geringer war, als erhofft, zumindest bei Regenwetter. Umso schöner, dass wir mit der Schulleitung bereits den nächsten Aktionszeitraum im September festgezurrt haben, um auch die „neuen Eltern“ mit ins Boot zu holen.
Seid ihr auch hamburgweit mit anderen Initiativen vernetzt?
Es gibt schon an vielen Schulen in Hamburg ähnliche Ideen, und mit Hilfe der Petition (s. Kasten) wollen wir ja dafür sorgen, dass noch viel mehr Menschen davon erfahren und sich für die Schaffung und dauerhafte Verstetigung von Schulstraßen einsetzen. Letztendlich ist das, was wir gemacht haben, ja nichts anderes als eine Art temporärer Verkehrsversuch. Aus jeder Woche haben wir wichtige Erkenntnisse gewonnen: Wen muss man in die Vorbereitung einbinden? Was muss man mit bedenken? Für welche Zeiträume wollen wir etwas beantragen? Mit dem Erfahrungsschatz, der bei uns und an anderen Schulen zusammengekommen ist, bekommt die Idee jedenfalls immer mehr konkrete Gestalt. Und das trägt hoffentlich dazu bei, dass die Ergebnisse zügig konkret umgesetzt werden.
Vielen Dank für das Gespräch und viel Erfolg bei euren weiteren Vorhaben und Aktionen.
Interview: Leo Strohm