Oberstaatsanwalt Björn Ziera, auf seinem Fahrrad mit Fahrradhelm, Jeans und Sakko bekleidet.

„Bei mir stellt sich nicht die Frage ,Fahre ich?’, sondern: ,Was ziehe ich an?’, sagt Oberstaatsanwalt Björn Ziera, der täglich mit dem Rad ins Büro, aber auch zu Ortsterminen fährt. © privat

Wanted: öffentliches Interesse

 

§ 152 Absatz 2 StPO regelt, wann Ermittlungsbehörden eine Untersuchung einleiten. In den §§ 153, 376 StPO ist normiert, wann sie bei Geringfügigkeit von einer Verfolgung absehen können.

 

Die RadCity sprach darüber mit Oberstaatsanwalt Björn Ziera, dem Leiter der Verkehrsabteilung 10 bei der Hamburger Staatsanwaltschaft.

RadCity: Herr Ziera, was ist Ihre Aufgabe?

Björn Ziera: Im Rahmen der Neustrukturierung sind bei der Staatsanwaltschaft Hamburg im März 2021 zwei Verkehrsabteilungen geschaffen worden, die sich ausschließlich mit Verkehrsdelikten befassen. Eine davon wird von mir geleitet.

Womit haben Sie es zu tun?

Mit Verkehrsdelikten sind allgemein alle Verfahren gemeint, die Bezug zum fließenden Verkehr haben. Das Spektrum reicht von fahrlässiger Tötung bis hin zu den allgemeinen Massendelikten wie Trunkenheit, Gefährdung des Straßenverkehrs, Nötigung, Fahren ohne Fahrerlaubnis oder Beleidigungen. Radfahrende erleben wir als Geschädigte im Verkehr, aber auch als angezeigte Täter von Nötigungen, und auch als Anzeigende. Meistens ärgern sich ja zwei Verkehrsteilnehmer*innen wechselseitig übereinander.

Wie viele Fälle bearbeiten Sie pro Jahr?

Die Abteilung 10 hat eine Sollstärke von 7,5 Dezernent*innen. In den ersten drei Monaten des Jahres 2022 sind in der Abteilung bereits über 3.300 Verfahren eingegangen.

Wie nehmen Sie als Alltagsradler Hamburgs Straßenverkehr wahr?

Ich fahre sehr gern, habe kein besonderes Gefährdungsempfinden. Ich ärgere mich durchaus bei manchen Fahrfehlern. Aber ich fahre sehr vorausschauend und das ist ja auch meine Pflicht als Verkehrsteilnehmer. Als Radfahrer bin ich vulnerabler und muss bei allen anderen Verkehrsteilnehmer*innen mit Fehlern rechnen.

Wie reagieren Sie, wenn Sie von Auto­fahrer*innen genötigt werden?

Alle machen Fehler. Entsprechend fahre ich auch. Ich ärgere mich kurz, aber das ist es dann auch gewesen. Ich kann da nur zur Gelassenheit raten. Ich mache mal eine Geste, die signalisiert „Mensch, Fehler“, aber hinterherfahren, belehrend werden, beleidigende Gesten, den Streit suchen – nein!

Vielen geht es aber nicht um Konfron­tation, sondern um Aufklärung – etwa zum korrekten Überholabstand.

Unfälle passieren, man muss nicht immer Anzeige erstatten. Dabei kommt es auf die Verletzungsfolgen an. Bei normalem Fehlverhalten, bei dem nichts Gravierendes passiert, ist auch eine Strafverfolgung nicht vorgesehen. Wie das Ganze geahndet wird, entscheidet die Staatsanwaltschaft, je nachdem, ob ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung vorliegt.

 

Den Verkehrsabteilungen der Staatsanwaltschaft Hamburg ist es ein wirkliches Anliegen, dass wenn Leute ihr persönliches Rechtsempfinden im Straßenverkehr gewaltsam durchsetzen wollen, sei es unter Einsatz eines Fahrzeugs oder mit Fäusten oder Ähnlichem – und da meine ich alle Verkehrsteilnehmenden –, dann möchten wir das schon ahnden. Und wenn jemand einen Führerschein hat, muss er oder sie mit dem Entzug der Fahrerlaubnis oder zumindest mit einem Fahrverbot als Warnungs- und Besinnungsstrafe rechnen.

Insgesamt möchten wir den Eskalationen entgegenwirken.

 

Wann beginnt das öffentliche Interesse?

Bei Privatklagedelikten, bestimmten Delikten der geringeren Kriminalität, hat der Gesetzgeber entschieden, dass die Staatsanwaltschaft nur eingreift, wenn ein öffentliches Interesse besteht. Das ist so bei fahrlässiger Körperverletzung, Nötigung, Beleidigung. Wann das öffentliche Interesse zu bejahen ist, definieren die Richtlinien im Straf- und Bußgeldverfahren: Ist der Rechtsfrieden über den Lebenskreis des Anzeigenden hinaus gestört und die Strafverfolgung ein gegenwärtiges Anliegen der Allgemeinheit? Bei Körperverletzung wären es grob gesagt „schlimme Folgen“ oder Rohheit. Bei einem normalen Verkehrsverstoß mit einfachen Prellungen oder Schürfungen ist das öffentliche Interesse nicht zu bejahen. Wir behandeln Radfahrende nicht anders als andere Verkehrsteilnehmer*innen. Der Großteil der Verfahren, die wir im Rahmen von fahr­lässiger Körperverletzung und Nötigung behandeln, bezieht sich auf Autofahrer*innen untereinander. Nach meiner Erfahrung werden selten Strafanträge gestellt. Gerade Rennradfahrer*innen, die eher hart im Nehmen sind, stellen bei Unfällen keine Strafanzeige. Als Staatsanwalt sehe ich aber bei gravierenden Folgen schon ein öffentliches Interesse und führe dann im Sinne der Gleichbehandlung gegebenfalls die Tat einer Ahndung zu. Bei fahrlässiger Körperverletzung kommt es häufig nicht gleich zu einer Anklage, sondern es gibt eine Geldauflage. Wenn kein öffentliches Interesse seitens der Staatsanwaltschaft besteht, wird es an die Ordnungswidrigkeitenbehörde abgegeben – wie bei den meisten Verkehrsverstößen. Das ist ein Automatismus und hat Konsequenzen wie zum Beispiel eine Geldbuße oder Punkte in Flensburg. Auch im Falle der Nötigung stellt sich die Frage: „Ist die Schwelle zum strafbaren Unrecht überschritten?“ Ist es so, dass wir mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahre oder einer Geldstrafe operieren müssen – bei Ersttätern ist es regelhaft eine Geldstrafe. Die Schwelle von der Ordnungswidrigkeit zur Straftat ist hoch. Da muss einiges mehr kommen.

Was zum Beispiel?

Bei einer Verletzung landet der Fall immer bei uns – egal, ob Strafantrag oder nicht. Die Polizei nimmt es auf – letztendlich geht es immer um die Verletzung und die Folgen. Bei Knochenbrüchen schreiten wir immer ein. Und die Art des Verkehrsverstoßes ist entscheidend. Wenn es ein Augenblicksversagen ist – etwa wenn man beim Abbiegen nicht richtig, nicht ausreichend geguckt hat – oder man ist geblendet ...

Aber gibt es ein „Übersehen“, oder fahren Autofahrer*innen nicht doch einfach nur zu schnell, der Situation nicht angepasst oder überholen zu eng?

Das ist richtig, aber es ist und bleibt ein Fehler. Die Frage ist, wie sehr sticht dieser Fehler aus dem Rahmen dessen, was Menschen an Fehlern passiert, heraus. Das ist ein entscheidender Unterschied. Der Fehler ist die Ordnungswidrigkeit. Jeder im Straßenverkehr muss Rücksicht nehmen. Aber ich würde nie für mich in Anspruch nehmen, fehlerfrei zu fahren. Jeder von uns macht Fehler.

Radfahrer*innen sind vielleicht keine besseren Menschen, aber ihr Fehl­verhal­ten hat definitiv nicht die oft tödlichen Folgen für andere wie das von Autofahrer*innen, oder?

Ausgangspunkt der Beurteilung ist das Fehlverhalten eines Menschen. Und dass das Fehlverhalten eines Menschen stärkere Schäden verursachen kann, das steht nicht im Gesetz. Wir müssen beurteilen: Was hat dieser Mensch getan? Das Unfallrisiko zu reduzieren liegt nicht in der Macht der Staatsanwaltschaft.

Oberstaatsanwalt Ziera:

"Es gibt keine Autojustiz"

 

Viele Radfahrende fühlen sich in einer Stadt wie Hamburg einer durch die Infrastruktur ermächtigten Autogewalt ausgeliefert. Sie auch?

Strafrechtlich kann ich das nicht sehen. Ich habe natürlich meine private Meinung als Verkehrsteilnehmer dazu, wie der Verkehrsraum verteilt ist und dass es da Optimierungsbedarf gibt. Aber ich fühle mich nicht verfolgt. Ich habe lange in München gelebt – da ist es wirklich nicht besser. Ich kann immer nur zur Gelassenheit aufrufen – und in Hamburg tut sich ja auch was. Die Radfahrenden erhalten mehr Platz im Straßenverkehr, auch das Klima insgesamt wird besser. Mehr Leute fahren Rad, da kommt mehr Verständnis auf.

Die Rechtsprechung stößt aber oft auf Unverständnis. Aktuelles Urteil aus Hamburg: Ein Lkw-Fahrer wurde zu einer Geldstrafe von 5.400 Euro verurteilt, weil er einen Radfahrer überfuhr und tötete, obwohl er ihn hätte sehen müssen. Laut Richterin hatte aber auch der Radfahrer Schuld, weil er seine Vorfahrt „er­zwingen“ wollte. Für viele ist das „Auto­justiz“.

Das Urteil will ich nicht kommentieren. Aber was ich mit Sicherheit sagen kann: Es gibt keine Autojustiz. Wenn eine Strafe gefunden werden muss, etwa bei einer fahrlässigen Tötung, dann wird sowohl von den Gerichten als auch von der Staatsanwaltschaft der allgemeine Strafrahmen berücksichtigt, nach § 222 bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe. Und dann werden die allgemeinen Strafzumessungsregeln angewandt. Nach meiner persönlichen Erfahrung ist es so: Radfahrer*innen werden nicht schlechter gestellt, aber auch nicht besser. Fahrlässige Tötungen kommen vor, besonders häufig im Straßenverkehr. Da gibt es keine milderen, aber auch keine strengeren Strafen. Bevor man zur Strafe schreitet, schaut man erst, ob gegen die Sorgfaltspflicht verstoßen wurde. Da ist die Justiz unheimlich streng. Die Sorgfaltspflichten sind enorm. Meist ist irgendeine Sorgfaltspflicht nicht beachtet worden. Da würden sich viele wundern.

Anderer Fall: Die Strafanzeige einer Radfahrerin wurde nicht verfolgt, eine Anzeige gegen sie im selben Zusammen­hang aber nur mit dem Hinweis eingestellt, dass sie damit nicht mehr rechnen dürfe, wenn sie erneut strafrechtlich in Erschei­nung trete – ein Ein­schüchte­rungsversuch, meinte die Radfahrerin.

Den konkreten Fall kann ich nicht beurteilen. Aber den Hinweis kenne ich natürlich. Gegen die Radfahrerin wurde in irgendeiner Form ein Verfahren eingeleitet und wegen mangelnden öffentlichen Interesses und geringer Schuld eingestellt nach dem Ermessensspielraum der Staatsanwaltschaft – und dann wird in geeigneten Fällen in die Einstellungsmitteilung der von Ihnen zitierte Satz geschrieben. Er soll nicht zum Ausdruck bringen: „Behelligen Sie uns nicht mehr mit einer Anzeige“, sondern es ging um den Tatvorwurf gegen sie. Es handelt sich um eine Einstellung nach § 153 StPO wegen geringer Schuld mit Verwarnung. In dem Satz ist eine Verwarnfunktion enthalten und sollte auch ausgesprochen werden. Eine ähnliche Tat soll nicht noch mal begangen werden. Es wird aber auch für die Zukunft immer der Einzelfall betrachtet, das ist nicht die Vorwegnahme eines Urteils für einen Vorfall in der Zukunft.

Interview: Dirk Lau

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https://hamburg.adfc.de/artikel/wanted-oeffentliches-interesse

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    Wie ein Fahrrad verkehrstauglich auszustatten ist, legt die Straßenverkehrszulassungsordnung (StVZO) fest. Vorgesehen sind darin zwei voneinander unabhängige Bremsen, die einen sicheren Halt ermöglichen. Für Aufmerksamkeit sorgen Radler*innen mit einer helltönenden Klingel, während zwei rutschfeste und festverschraubte Pedale nicht nur für den richtigen Antrieb sorgen. Je zwei nach vorn und hinten wirkende, gelbe Rückstrahler an den Pedalen stellen nämlich darüber hinaus sicher, dass Sie auch bei eintretender Dämmerung gut gesehen werden können. Ein rotes Rücklicht erhöht zusätzlich die Sichtbarkeit nach hinten und ein weißer Frontscheinwerfer trägt dazu bei, dass Radfahrende die vor sich liegende Strecke gut erkennen. Reflektoren oder wahlweise Reflektorstreifen an den Speichen sind ebenfalls vorgeschrieben. Hinzu kommen ein weißer Reflektor vorne und ein roter Großrückstrahler hinten, die laut StVZO zwingend vorgeschrieben sind.

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