Unter die Räder gekommen
In der ersten Jahreshälfte 2023 wurden bereits zwei radfahrende Menschen durch rechtsabbiegende Lkw-Fahrer auf Hamburgs Straßen getötet.
Am 1. Juni 2023 kam es an der Kreuzung Veddeler Bogen/Georgswerder Bogen in Wilhelmsburg zu einem furchtbaren Unfall. Es war eine klassische Rechtsabbieger-Situation: Der Fahrer eines Sattelzugs wollte aus dem Veddeler Bogen in den Georgswerder Bogen einbiegen, das Unfallopfer, ein 62-jähriger Mann, der neben ihm mit seinem Rad auf einem Hochbordradweg an der Ampel stand, geradeaus über die Kreuzung fahren. Gleichzeitig mit der Fahrbahnampel schaltete auch die kombinierte Fuß-/Radverkehrsampel auf Grün, der Radfahrer fuhr geradeaus los und der Lastwagenfahrer bog nach rechts ab. Dabei verletzte er den Radfahrer tödlich.
Ruf nach mehr Sicherheit!
Schon im Januar dieses Jahres war eine Radfahrerin in der Hafencity an der Kreuzung Überseeallee/Osakaallee überrollt und tödlich verletzt worden. Auch hier war die Radfahrerin geradeaus unterwegs, während der Lkw-Fahrer rechts abgebogen war und sie nicht wahrgenommen hatte. Nach beiden Unfällen hat der ADFC Hamburg zu einer Mahnwache aufgerufen. Nach beiden Unfällen war die Betroffenheit in den Medien groß. Nach beiden Unfällen wurde von vielen Seiten der Ruf nach mehr Sicherheit für nicht gepanzerte Verkehrsteilnehmer*innen laut. Aber wie immer steckt der Teufel im Detail, in diesem Fall in der Frage, wie mehr Sicherheit denn zu erreichen sei.
Mehr Platz!
Seit Jahren fordert der ADFC Mehr Platz fürs Rad, gerne noch ergänzt durch den Zusatz Auf der Straße und in den Köpfen. Und genau dort, zwischen den Ohren, sitzt eines der zentralen Probleme. Weil in Hamburg – und nicht nur hier – viel zu lange ausschließlich auf ein einziges Verkehrsmittel gesetzt wurde. Und das prägt. Es prägt das Denken der Planer*innen und Behörden, der Gerichte und der Polizei und natürlich auch das Denken eines großen Teils der Bevölkerung. Ende 2022 hatte der größte Automobilclub Europas 21,4 Millionen Mitglieder. Das sind fast hundert Mal mehr, als der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club aufweisen kann.
Ist es also verwunderlich, dass jeder Vorschlag zur Einrichtung von Tempo-30-Zonen sofort einen Sturm der Entrüstung hervorruft? Oder dass Forderungen nach Fahrradstreifen oder einem Abbau von Parkflächen als unerhörter Angriff auf die Freiheit und die individuelle Selbstverwirklichung gebrandmarkt werden? Wie hat der SPIEGEL (30/23) diese Haltung neulich beschrieben: "Tote Radfahrer, tja, damit müssen wir leben. Aber ausgebremste Autofahrer? Das geht über die Schmerzgrenze." Und da passt es ins Bild, dass Berlin nach Jahren der zarten Hoffnung auf ein verkehrspolitisches Umdenken gerade eine knallharte Rolle rückwärts vollführt, indem Radwegprojekte gestoppt und Kfz-Parkflächen für unantastbar erklärt werden.
Gute Beispiele gibt es genug!
Dass es natürlich auch anders geht, zeigt ein Blick über die Grenzen Deutschlands, zum Beispiel nach Paris, Kopenhagen, Zürich oder Helsinki. Allesamt europäische Großstädte, allesamt Wirtschafts- und Handelszentren, allesamt sehr viel weiter beim Umbau ihres Verkehrsnetzes als Hamburg. Weil sie den Autoverkehr konsequent zurückdrängen, weil sie Fuß- und Radwege konsequent ausbauen, weil sie den öffentlichen Nahverkehr konsequent fördern. Das Zauberwort heißt also: konsequent.
Vision Zero
Wie könnte konsequentes Handeln aussehen? Der Deutsche Verkehrssicherheitsrat (DVR) hat schon im Jahr 2007 die Vision Zero zur Grundlage seiner Arbeit gemacht. Ziel der Vision Zero ist es, die Zahl der Getöteten und Schwerverletzten im Straßenverkehr auf null zu reduzieren. "Um das zu erreichen, muss ein sicheres Verkehrssystem geschaffen werden. […] Regelwerke, Gesetze und Verordnungen müssen entsprechend der Vision Zero angepasst werden. Von der Politik verlangt die Vision Zero, klare Prioritäten zu setzen. Dabei muss die Unversehrtheit des Menschen an erster Stelle stehen. Das Leben ist nicht verhandelbar", so steht es auf der Webseite des DVR. Doch davon sind wir tatsächlich noch sehr, sehr weit entfernt.
In Helsinki hingegen, nur als Beispiel, wurde das Ziel der Vision Zero gerade erreicht. Wie? Vor allem durch zwei Maßnahmen: Zum einen wurde der fließende Verkehr verlangsamt und Tempo 30 zum Standard gemacht. Zum anderen wurden die öffentlichen Verkehrsmittel stark ausgebaut, sodass heute fast 80 Prozent aller Wege mit Bus und Bahn, zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückgelegt werden. Und das, kein Wunder, reduziert die Zahl der schweren Unfälle erheblich. Der Weg zur Vision Zero führt über den zügigen Ausbau und die Anpassung der Infrastruktur für den Rad- und Fußverkehr.
Professor Dr. Axel Ekkernkamp, Ärztlicher Direktor und Geschäftsführer am Unfallkrankenhaus Berlin, sieht es so: "Im Unfallkrankenhaus Berlin sind wir jeden Tag mit den schrecklichen Folgen von Verkehrsunfällen – Tod, schwerste Verletzungen, das Leid der Angehörigen – konfrontiert. Mit einem Verkehrssystem, das an den Menschen orientiert ist, hätten viele dieser Unfälle verhindert oder ihre Folgen gemindert werden können. Deshalb ist es wichtig, dass Politik, Industrie, Öffentlichkeit und Medien umdenken und gemeinsam ein Verkehrssystems gestalten, in dem niemand mehr zu Tode kommen muss oder schwerste Verletzungen davonträgt. Den Weg hierfür gibt die Vision Zero vor."
Statistik
Die Hamburger Verkehrssicherheitsbilanz für das Jahr 2022, vorgelegt von der Innenbehörde, der Polizei und der Verkehrsdirektion, stellt fest, dass immer mehr Menschen in Hamburg mit dem Fahrrad unterwegs sind. Insofern scheint es naheliegend, dass auch die Zahl der Verkehrsunfälle mit Radfahrenden seit Jahren steigt. So wurden im vergangenen Jahr 4.257 solcher Unfälle gezählt, das sind 714 mehr als 2019 (+20,2 Prozent) beziehungsweise 551 mehr als im Vorjahr (+14,9 Prozent). 3.185 Radfahrende sind dabei verunglückt, drei davon tödlich. Dazu kommt eine Zahl, die bundesweit seit Jahren stagniert: Etwa zwei Drittel aller Fahrradunfälle sind Kollisionen mit Autos. Hauptschuld trägt in 75 Prozent der Fälle die Person hinterm Lenkrad. Und die meisten und schwersten Fahrradunfälle passieren an Kreuzungen und Einmündungen. Häufigster Grund für diese Kollisionen ist, dass den Radler*innen die Vorfahrt genommen wird.
Bittere Realität
Das bringt uns zurück zu dem tödlichen Unfall in Wilhelmsburg. Besonders tragisch ist dabei, dass die Planungen für den Umbau der Kreuzung bereits vorlagen: Der Baubeginn war für August 2023 vorgesehen. Der Straßenverlauf Veddeler Bogen – Niedergeorgswerder Deich ist Teil der Veloroute 10, und der Veddeler Bogen soll bis kurz vor der Kreuzung zur Fahrradstraße werden. Trotzdem soll der Hochbordradweg als Option erhalten bleiben. Dabei wird die Querung des Georgswerder Bogens ein Stück verlegt, so dass Kraftfahrzeuge bereits um die Ecke herumgefahren sind, bevor sie auf die Querung treffen.
Deutliche Kritik
Von der ADFC-Bezirksgruppe Mitte wird diese Planung deutlich kritisiert: Weshalb ist vor der Ampel keine Aufstellfläche für Fahrräder vorgesehen, zumal am Ende einer Fahrradstraße? Weshalb wird an der Querung im fließenden Abbiegeverkehr festgehalten, auch wenn keine Benutzungspflicht gilt? Warum sind die Abbiegewinkel nach wie vor so flach, dass Kraftfahrzeuge mit hohem Tempo um die Ecke fahren können? So werden immer wieder tödliche Abbiegeunfälle provoziert.
Auch ein Blick auf die weitere Planung gibt wenig Anlass zur Hoffnung: Der Niedergeorgswerder Deich erhält Richtung Kirchdorf einen zwei Meter breiten Hochbordradweg – aber nur in dieser Richtung. In Richtung Veddel wird ein 1,5 Meter breiter Schutzstreifen aufgemalt, der kurz vor der Kreuzung in einen ebenso schmalen Radfahrstreifen übergeht. Allerdings provoziert dies bei grüner Ampel in Richtung Norden weitere Abbiegeunfälle: Bei Radfahrstreifen wird der vorgeschriebene Überholabstand oft ignoriert, und wenn sie so schmal ausfallen, verringert sich das subjektive Sicherheitsgefühl und führt zu einer hohen Geisterradlerquote auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
Konstruktive Vorschläge
Zeitgemäß wäre eine durchgängige Fahrradstraße auf dem Niedergeorgswerder Deich, mindestens aber eine Tempo-30-Zone, verbunden mit baulichen Maßnahmen, um diese auch durchzusetzen. Eine Veloroute im Mischverkehr auf einer Straße, die von Pkw und Lkw als Schleichweg zur A1 genutzt wird, ist eine Alibi-Lösung und wird weitere Unfälle zur Folge haben.
In Bezug auf die Kreuzung Überseeallee/Osakaallee in der Hafencity – übrigens ebenfalls Teil der Veloroute 10 und als „Rückgrat des Radverkehrsnetzes“ eigentlich mit besonders hohen Anforderungen auch an die Verkehrssicherheit verknüpft – hat Thomas Lütke als Vertreter des ADFC Hamburg auf der Gedenkveranstaltung für die getötete Radfahrerin deutliche Forderungen formuliert:
- Eine Haltelinie für Radfahrende fünf Meter vor der Haltelinie für Kraftfahrzeuge. Dadurch rückt der Radverkehr beim Warten an der Ampel ins Sichtfeld auch von Lkw-Fahrer*innen.
- Einen breiten (geschützten) Radfahrstreifen auf der Magdeburger Brücke statt des bisherigen schmalen "Schutzstreifens". Der Rechtsabbiegestreifen, der ohnehin zu schmal ist, würde wegfallen. So wird zu enges Überholen unterbunden und der Abstand zwischen Lkw- und Radfahrenden vergrößert, was zu einer längeren Reaktionszeit für die Verkehrsteilnehmer*innen beim Abbiegevorgang führt
- Verringerung des Kurvenradius zum Beispiel durch eine kleine Verkehrsinsel, die zwischen den rechtsabbiegenden Kfz und rechtsabbiegenden Radler*innen in der Kreuzung liegt und somit ein Schneiden beim Rechtsabbiegen verhindert.
Grundsätzlich fordert der Fahrradclub für alle Kreuzungen in Hamburg:
- Mehr Platz und Sicherheit für den Radverkehr: Sogenannte Schutzstreifen bieten wegen ihrer viel zu geringen Breite keinen Schutz und führen in der Praxis häufig zu Überholvorgängen ohne Sicherheitsabstand.
- Sofortige rote Einfärbung aller Kreuzungsbereiche mit Schnittstellen zwischen den verschiedenen Verkehrsarten.
- Verpflichtende Abbiegeassistenten: Lkws ohne Assistenzsysteme dürfen im Stadtgebiet nicht mehr gefahren werden.
- Konsequente Kontrollen und Sanktionierung des Abbiegeverhaltens: Die wenigsten Lkw-Fahrer*innen halten sich an die vorgeschriebene Schrittgeschwindigkeit von 5 bis 10 km/h beim Rechtsabbiegen.
- Verbesserung der Verkehrssicherheit an Baustellen, Einholung der Expertise von Vertreter*innen des ADFC vor Ort bei komplexen, lang andauernden Baustellen.
Endlich handeln!
Und es liegt ja auf der Hand: All das wären Maßnahmen, mit denen sich die Wahrscheinlichkeit weiterer Todesopfer auf Hamburgs Straßen erheblich reduzieren ließe. Es muss aber endlich gemacht werden! Schluss mit dem Fetisch vom ungestörten Fluss des Autoverkehrs. Schluss mit Stau, Lärm und Smog. Schluss mit der Verschwendung von öffentlichem Raum durch Massen geparkter Autos. Denn eine menschenfreundliche Stadt fällt nicht vom Himmel.
Marcel Simon-Gadhof/Leo Strohm
Dieser Artikel stammt aus der aktuellen RadCity 3.2023